Estelle – Shine

Wie schade, dass Estelle mit ihrem zweiten Longplayer „Shine“ nicht an ihr starkes Debüt „The 18th Day“ aus 2004 angeknüpft hat, denn während mich Estelles erstes Album noch heute anspricht, ist das bei ihrem zweiten leider nicht der Fall.

Einige anstrengende Tracks bietet zwar auch „The 18th Day“, doch „Shine“ ein zweites Mal am Stück zu hören, erfordert Überwindung. Anstatt die Stärken der Künstlerin auszubauen – etwa mehr Raps zu bringen – wird ihre Singstimme in unvorteilhafter Weise hervorgehoben.

Ein Plus auf „The 18th Day“ war die klare Struktur der Songs, die nicht durch künstlerische Spielereien (oder die der Produzenten) verwässert oder zu einem disharmonischen Brei verdorben wurde.

Dagegen habe ich mich beim ersten Track auf „Shine“, „Wait A Minute (Just A Touch)“ gefragt, ob bei mir gerade zwei Songs gleichzeitig am Computer laufen und bin alle meine Browserfenster durchgegangen. Doch erst nach ein Klick auf Pause und dem Verstummen von „Wait A Minute (Just A Touch)“ war die disharmonische Belastung beseitigt.

Ehrlich gesagt war ich später nicht überrascht, zu sehen, dass Will.I.Am von den Black Eyed Peas der Produzent ist. Diese Unruhe und diese Mischung aus Sounds, die nicht zusammenpassen wollen, soll vermutlich kreativ und hip sein. Voll künstlerisch und so. Danke, ich verzichte. Ebenso gerne auf das dort als Sample genutzte „I Put A Spell On You“ von Screamin‘ Jay Hawkins. Früher war eben nicht alles besser.

Für den zweiten Track auf „Shine“ – „No Substitute Love“ – stand mit „Substitute Lover“ von Reggaekünstler Half Pint solides Ausgangsmaterial zur Verfügung. „No Substitute Love“ ließ mich Hoffnung schöpfen, dass „Shine“ doch nicht so schwer verdaulich wäre, denn dieser Song hat sehr starke Momente, die beweisen, dass Estelle es ja besser kann. Zwar wurde auch hier unnötig Unruhe in den Track gebracht (um ihn nicht zu retro klingen zu lassen?), doch das Ergebnis bleibt hörenswert.

Der dritte Track „American Boy“ ft. Kanye West beginnt vielversprechend, denn nach einem sanften Intro weiß sein stampfender, gut „ziehender“ Beat zu überzeugen. Estelle und Kanye West harmonieren in ihren Gesangstilen gut. Leider wird „American Boy“ nicht zu dem Killertrack entwickelt, der er hätte sein können.

Hier fehlt einfach noch was und da ist der seichte Text noch nicht mal das Problem. Mehr ist dem Trio aus Estelle, Will.I.Am und Kanye West beim Songschreiben nicht eingefallen? Doch es geht weiter: Auch dieser – wieder von Will.I.Am produzierte Song – ist nicht frei von Samples: Hört man sein „Impatient“ fragt man sich, wie dreist es eigentlich ist, bei sich selbst (aus dem vorigen Jahr!) so viel zu klauen. Außerdem wurde so „& Down“ von Boys Noize verwendet.

„More Than Friends“ als vierter Track auf „Shine“ ist endlich ein netter, relaxter Albumtrack, wie man sich mehr von Estelle gewünscht hätte. Der von Keezo Kane produzierte Song bringt Harmonie und wirkt nach mehrmaligem Hören sogar richtig gut, er ist nicht so simpel gestrickt, wie man das beim ersten Durchlauf noch denken mag.

Bei „Magnificent“ mit Kardinal Offishall als Gast ist es schon Geschmacksfrage, ob man den Stil mag, doch Produzent Mark Ronson hat es nicht übertrieben und Estelle einen schönen Song gebastelt.

Nachfolgend erreicht „Shine“ einen echten Glanzpunkt mit dem durch Supa Dups produzierten „Come Over“, das auch gut auf Rihannas Debüt „Music Of The Sun“ gepasst hätte. Eingängig, ohne langweilig zu sein und wie ein Traum von einem Sonnuntergang am Traumstrand schmiegt sich eine sehr ansprechende Mélange mit Urlaubsfeeling ans Ohr. Hier stimmen die Details, das facettenreiche „Come Over“ entbehrt überflüssiger Elemente.

Bei „So Much Out The Way“ ereilt „Shine“ wieder der Effekt vom ersten Track: Läuft da noch irgendwo was anderes als dieses Lied? Und was ist eigentlich mit dem Sound los…ach es soll verzerrt klingen. Wyclef Jean und Jerry Duplessis ruinieren „So Much Out The Way“ nicht allein dadurch, sondern auch indem sie zu viel in den Track packen. Power hat „So Much Out The Way“, gute Ideen sind dabei, die Rap-Passagen von Estelle sitzen, das hätte was richtig Gutes werden können. Den Beat während des Songs mehrfach zu wechseln, ist riskant – kann aber cool sein – hier wurde bei den schnellen Stilwechseln zu hoch gepokert und verloren. Schade ist es da um die Anleihen bei „So Much Things To Say“ von Bob Marley; dann doch lieber „So Much Things To Say“ von Lauryn Hill!

Das Problem bei „In The Rain“ – es sind viele Probleme auf „Shine“ – ist die Geschwindigkeit, die unpassende, die diesen Song von der Instrumentierung hochgepitched wirken lässt. Der Gesang ist gelungen, wieso müssen die Beats so schnell sein? Und vor allem so unruhig? Wer weiß, was Produzent Johnny Douglas sich dabei gedacht hat – die Stilwechsel – wenngleich nicht so ausgeprägt wie bei „So Much Out The Way“ – bekommen auch „In The Rain“ nicht gut.

Mit weniger auf kreativ getrimmten Beats wäre das von Steve McKie produzierte „Back In Love“ ein schöner Schmusesong geworden, doch so mag weder Kuschelstimmung aufkommen noch Entspannung eintreten.

Gehetzt wirkt Estelle mindestens durch die zittrigen Beats bei „You Are“, das sie mit John Legend (der sie auf sein Label Homeschool Records holte) singt. Doch immerhin: Während John Legend gelangweilt klingt, singt Estelle überzeugend auf diesem von Tom Craskey produzierten Stück.

Einen weiteren Gast erleben wir mit Cee-Lo bei „Pretty Please (Love Me)“ (Produzent: Jack Splash), der mit Estelle ein gelungenes Duett im Stil von 60er Jahre Soul hinlegt. Das ist nicht originell, besonders nicht bei der aktuellen Retro-Welle, aber es klingt super.

Den Titeltrack „Shine“ finden wir erst am Ende ihres Albums. Das von Swizz Beatz produzierte „Shine“ lässt trotz prima Rap-Einlage von Estelle und interessanter Ansätze wünschen, das eh nicht prallvolle Album wäre noch einen Track kürzer. Nicht die kreativen Beats bringen „Shine“ zu Fall, sondern ein nerviger Chorus und die Tatsache, dass wieder zu viel gleichzeitig zu hören ist.

FAZIT: „Shine“ offeriert einzelne starke Tracks, doch Estelle kann mit ihrem zweiten Album als Ganzes nicht überzeugen: zu viele Kontraste, zu wenig Harmonie, zu viele Stellen, an denen die eher dünne Stimme der Sängerin statt ihrer Rap-Stimme ungünstig (sie kann auch anders) zu hören ist. Es klingt nicht rund, es fehlt die klare Linie, bei „Shine“ hatten zu viele Produzenten zu viel Spielraum, „Shine“ fehlt der rote Faden, was nicht einfach mit „stilistischer“ oder „künstlerischer Vielfalt“ entschuldigt werden sollte. Wenn R&B tatsächlich in einer Krise steckt, dann liegt das mit daran, dass Alben wie dieses so viele gute Kritiken bekommen.

Künstler: Estelle | Album: Shine | Label: Atlantic (Warner) | VÖ: 9. Mai 2008

Über Oliver Springer 339 Artikel
Oliver Springer gehört neben Jörg Wachsmuth zu den Gründern von rap2soul. Er lernte Hörfunk ab 1994 bei JAM FM und moderierte dort fast 12 Jahre. Später war der ausgebildete PR-Berater er als Pro-Blogger tätig. Gemeinsam mit Wachsmuth entwickelte Springer den Digitalradiosender PELI ONE - Dein neues Urban Music Radio, bei dem er seit 2018 den Nachmittag in der Drive Time moderiert.

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